2002
Dylan
Alter: 17
Mittwochs um sechs war Besuchszeit im Duval County Jugendgefängnis.
Ich machte mir keine Hoffnungen, aber als mein Name gerufen wurde … Ich muss zugeben, plötzlich war ich aufgeregt wie ein Kind vor seinem Geburtstag.
Ich hatte mich heute schon mit meiner Anwältin getroffen, einer Pflichtverteidigerin des Countys. Eine dunkelhäutige Frau, kaum älter als Max. Ihre Sorge um mich, ihre Aufrichtigkeit, ihr billiger neuer Anzug und ihre weiße Bluse mit dem Kaffeefleck am Kragen – all das war mir so unangenehm, dass ich sie nicht einmal hatte angucken können.
Sie wollte, dass ich auf einen Deal mit der Staatsanwaltschaft einging.
Du bist nichts Besonderes, hatte sie mir erklärt. Ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes sagen. Aber es gibt hunderte Jungen wie dich hier drin. Gute Jungen, die eine schlechte Entscheidung getroffen haben. Und wenn du ins Gefängnis gehst, Dylan, dann wird diese schlechte Entscheidung deine Zukunft bestimmen. Du wirst dein ganzes Leben mit dem Versuch zubringen, das hinter dir zu lassen. Sind die Arschlöcher, die du beschützt, das wirklich wert?
Mein Bruder ist es wert, hatte ich gedacht. Er ist das alles wert.
«Daniels,» brüllte der Wärter, als ich nicht auf meine Häftlingsnummer reagierte. «Beweg deinen Arsch in die Reihe.»
Ich stand auf und stellte mich in die Reihe der anderen Insassen, auf die Besuch wartete.
Es war nicht meine Anwältin. Max war hier drin mit mir. Und auf keinen Fall würde Dad ins Gefängnis kommen. Nicht, wenn er nicht verhaftet worden war.
Blieb Mom.
Der Gedanke an Mom ließ mir den Hals eng werden. Ich fühlte eine seltsame Mischung aus Glück und Schmerz.
Jeder Junge in diesem Scheißloch wollte seine Mom sehen. Ganz egal, was für Probleme sie auch verursacht hatte.
Das machte das Gefängnis aus dir.
Ich war seit elf Tagen hier drin. Und jeder einzelne Tag hatte sich angefühlt wie ein Jahr. Jede Nacht wie zehn.
Der Wärter bellte eine Anweisung, die Tür ging auf und wir gingen hintereinander in den Besucherraum. Es war ein Betonbunker, so wie alle Räume hier. Und es roch nach industriellem Reiniger, zehn unterschiedlichen Parfums und Zigarettenrauch.
Wenn Trauer einen Geruch hätte, dann wäre es dieser.
Wir waren zu sechst und stellten uns an die vor Kurzem weiß gestrichene Betonwand, um darauf zu warten, dass unsere Nummer aufgerufen wurde und wir uns zu unseren Familienmitgliedern an den runden Picknicktischen aus Metall gesellen konnten.
Eine Frau an einem Tische ganz vorn weinte, und so wie ihre Mascara aussah, schien sie schon seit Tagen zu weinen. Als sie den kleinen schwarzen Jungen neben mir erblickte, vergrub sie das Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen.
Ich sah auf den Kleinen hinab und entdeckte auch in seinen Augen Tränen.
Scheiße. An diesem Ort waren doch wirklich alle verloren.
Ich ließ meinen Blick auf der Suche nach Mom über die Tische gleiten, aber in der hintersten Ecke, halb von mir abgewendet, saß Pops. Ohne seine Kutte und die Messer und den anderen Scheiß der Skulls sah er kleiner aus. Und auch älter.
Wie ein normaler Kerl, genau so sah er aus. Vielleicht ein Mechaniker, irgendwo in einer Werkstatt, oder ein Hausmeister, der seinen Mopp durch irgendeine Schule schob.
Es machte mich traurig, dass er dieser Kerl nicht war.
Er hob seine Hand zu einem Gruß mit einem verzerrten Lächeln, aus dem ich jede Menge Schuldgefühle herauslas.
Die freudige Erwartung wurde zu einem Bleigewicht, das sich mir um die Füße legte.
Meine Nummer wurde aufgerufen, und ich schlurfte in die Ecke, wo Dad saß. Wir durften uns nicht berühren. Nicht, dass wir das sonst getan hätten.
«Hey, Pops», sagte ich.
«Dylan. Du siehst in Ordnung aus.»
Ich hatte von einem Kampf ein blaues Auge. Sie hatten mich angefallen, als ich gerade mal zehn Minuten in der Gemeinschaftszelle saß, nachdem das Rennen von den Cops aufgelöst worden war.
Zwei Wichser aus dem Dirty Bastards Motorradclub hatten meinen Namen mitgekriegt und die Verbindung zu meinem Vater hergestellt. Und deshalb prügelten sie die Scheiße aus mir raus.
Aber Dad redete nicht von dem blauen Auge. Ich war mir nicht mal sicher, ob es ihm auffiel. Bei dem Leben, das er führte, waren solche Blessuren alltäglich.
«Ja», erwiderte ich. «Das Essen ist scheiße, aber es gibt reichlich.»
«Ich hab zwanzig Kilo zugenommen, als ich das erste Mal saß.» Pops lachte. Ich lächelte nicht einmal.
«Wo ist Mom?»
Pops rieb sich mit einer Hand über das Gesicht, und ich kannte die Antwort. Oder zumindest eine Version der Antwort. Sie würde nicht kommen. Sie war high oder kam gerade von einem High herunter oder suchte nach einem Weg, wieder high zu werden.
«Sie ist gegangen», sagte er.
«Gegangen? Wohin?»
Sie war mal nach Orlando verschwunden, um einen Freund zu besuchen oder so. Max dachte, sie hätte einen Liebhaber. Ich hatte bezweifelt, dass irgendjemand sich auf ihren Scheiß einlassen würde.
«Zu ihrer Schwester nach Arizona.»
Das hatte ich nicht erwartet. Arizona könnte genauso gut der Mond sein. Und ihre Schwester … Wenn Tante Luisa an Mom herankam, würden wir sie nie wiedersehen. Sie würde dafür sorgen, dass Mom clean wurde, arbeitete und uns vergaß. Das war Tante Luisas oberstes Ziel: Ihre Schwester vor den Fehlern zu retten, die sie gemacht hatte.
«Sie ist wirklich weg?», fragte ich.
Pops nickte. «Sie hat einen Abschiedsbrief geschrieben.»
«Was stand drin?»
«Dass es ihr leid tut.» Dads wässrige blaue Augen trafen auf meine, bevor er einen unheimlich faszinierenden Fleck hinter meiner Schulter entdeckte. «Sehr leid.»
«Was tut ihr leid? Dass sie aus der Entzugsklinik abgehauen ist, in die Max und ich sie geschickt haben?»
Ich war achtzehn erfolgreiche Monate lang Rennen gefahren. Max und ich sprachen sogar darüber, an legalen Rennen in der Nähe teilzunehmen. Einen Wagen zu kaufen, statt zu stehlen. Vielleicht sogar eine teure Versicherung zu bezahlen, die man für die NASCAR brauchte.
Aber es war so viel einfacher, ein Auto zu klauen. Und Rabbit stand immer schon mit dem nächsten Rennen bereit. Alles, was ich tun musste, war, aufzukreuzen und einen Haufen Geld zu gewinnen.
«Rede … rede nicht so über sie», sagte Dad.
«Sie hat dich verlassen, Pops. Warum verteidigst du sie immer noch? Fuck, warum interessiert es dich, wie ich –»
«Weil sie deine Mutter ist!», brüllte Pops.
Der Wärter rief ihnen eine Warnung zu, und Pops hob entschuldigend die Hände. Aber ich kochte innerlich. Ich vibrierte förmlich.
«Sie war eine beschissene Mutter», stieß ich aus. Ein kleiner Teil von mir sagte das nur, um ihn zu verletzten.
«Es tut ihr leid.»
«Tut es ihr auch leid, dass sie dich verlassen hat?»
«Nein.» Er seufzte. «Ich schätze, das war schon eine ganze Weile überfällig.»
Ich konnte ihn nicht ansehen. Er war armselig und kaputt und alt, und ich saß im Knast. Hinter seiner Schulter hing ein Poster. Es ging darauf um all die Sachen, die die Leute von draußen nicht mit reinbringen durften. Die Texte waren auf Englisch und Spanisch, und es gab sogar Bilder, vielleicht für die Blödmänner, die gar nicht lesen konnten.
Schlüssel. Handys. Essen. Zigaretten.
Ich wünschte, es gäbe ein Poster für die Dinge, die Leute mitbrachten, ohne es zu wissen. Erinnerungen. Zorn. Probleme. So viel Bitterkeit, das mir davon übel wurde.
«Bist du nur gekommen, um mir das zu erzählen?», fragte ich.
«Zum Teil.» Pops legte die Hände flach auf den Tisch. Er hatte Motoröl unter den Fingernägeln. Er hatte immer Motoröl unter den Fingernägeln.
«Woran arbeitest du?» wollte ich wissen und deutete auf seine dreckigen Hände.
«Ein Siebenundsiebziger Chevy Sidestep.»
«Die Schottsdale-Version?»
«Ja.»
Ich könnte nach dem Motor fragen. Nach den Reparaturen. Nach dem Zustand der Karosse. Wir würden reden, und für ein paar Minuten würde ich vielleicht vergessen, dass ich im Gefängnis saß, und er würde vielleicht vergessen, dass seine Frau ihn verlassen hatte. Es würde uns beide trösten. Egal, wie sehr ich ihn verabscheute. Aber irgendetwas hinderte mich. Ein Gefühl, dass ich nicht vergessen durfte, wo ich war. Nicht mal für eine Minute.
«Also, war’s das?», fragte ich. «Du wolltest mir nur von Mom erzählen?»
Und einfach so, von einem Moment auf den anderen, war er wieder ein Krimineller. Hart und gemein. Ein Realist in einer beschissenen Welt.
«Ich muss wissen, dass du das Richtige für deinen Bruder tun wirst. Max ist neunzehn, Dylan. Der Anwalt sagt, dass die ihn als Erwachsenen anklagen werden, und bei seinen Vorstrafen wird er die Höchststrafe bekommen. Aber du bist ein Minderjähriger ohne vorherige Verurteilungen. Du musst das für ihn machen.»
Du musst das für ihn machen.
Es gab da diesen Strand, zu dem Max und ich vor den Rennen gingen. Oder bevor wir in der Nacht Autos klauen wollten. Wir parkten am Straßenrand und kletterten dann über die zerbrochenen Betonklötze, die als Wellenbrecher aufgestellt worden waren, um das kleine Stück Strand zu erreichen. Manchmal waren Mädchen im Bikini dort, die über den Sand liefen. Aber meistens waren es nur ein paar ältere Kerle, die versuchten, Fische zu fangen. Vielleicht wollten sie sich so etwas Geld verdienen oder ein Essen für ihre Familie besorgen. Oder vielleicht wollten sie sich auch nur die Zeit vertreiben, keine Ahnung.
Ich mochte es besonders, wenn wir zum Sonnenuntergang dorthin gingen. Strand. Wasser. Sonne. Himmel. Die Sonne schien nie zwei Mal auf dieselbe Art unterzugehen. Manchmal versank sie so langsam hinter dem Horizont, dass es wie eine Ewigkeit wirkte.
Und manchmal musste man nur einmal blinzeln, und dann war sie plötzlich verschwunden. Weg.
Pops sah mich mit seinen eiskalten Augen an, und mein Leben verschwand. So schnell und so gleißend hart, dass ich geisterhafte Schatten davon hinter meinen Liedern sah.
«Verstehst du mich, Sohn?», fragte er.
«Ich verstehe», antwortete ich. Ich hob die Hand, um den Wärter auf mich aufmerksam zu machen, und er nickte. Ein anderer Wärter kam und stellte sich neben mich. Es machte keinen Unterschied, dass ich die Worte erwartet hatte, erwartet hatte, dass er mich darum bat. Ich hatte jede Nacht in diesem Betonbunker genau dasselbe gedacht.
Hier saß mein Dad und verlangte von seinem einen Sohn, ins Gefängnis zu gehen, damit der andere draußen bleiben konnte, als würde es nichts bedeuten.
Als würde ich nichts bedeuten.
«Dylan?»
«Sag Max, er soll sich keine Sorgen machen. Ich kümmere mich.»
Und dann ging ich zurück in meinen Käfig.
Ein paar Monate im Jugendknast. Wie schlimm konnte das schon werden?