1998
Dylan
Alter: 13
Es ist nicht so, als hätte ich geplant, ein dreizehn Jahre alter Autodieb zu werden.
Es ist einfach irgendwie passiert, während ich mit meinem Bruder unterwegs war. Auf diese Art sind so einige Dinge in meinem Leben passiert.
«Pops wird dich umbringen», sagte ich zu ihm. Ich saß auf dem Lenkrad des Fahrrads, das Max fuhr, und lehnte mich vorsichtig zur Seite, als er langsam links abbog. Wir waren auf dem Weg zu einem Dauerparkplatz am Bahnhof ganz im Westen von Jacksonville.
«Pops erfährt nichts davon.» Max war außer Atem, weil er wie ein Blöder in die Pedale trat. Diese ganze Idee war total blöd. Aber mich fragte ja niemand.
«Er wird es erfahren, wenn du wieder im Knast landest.»
Manchmal kam es mir vor, als würde meine Familie in einem Boot sitzen und langsam versinken. Nur war ich der Einzige, dem das auffiel und der mal sagte: «Hey, ihr Arschlöcher, ich glaube, wir gehen unter.»
Kies knirschte unter den Reifen, als wir auf den Parkplatz fuhren. Mit seinem Schweigen sagte Max laut und deutlich, dass er nicht darüber reden wollte.
Aber ich konnte einfach nicht die Klappe halten.
«Mom wird …»
«Schnauze, Dylan. Pass auf, ob die Cops kommen. Und Mom wird gar nichts machen,» murmelte Max. «Pops auch nicht.»
Ich hielt die Klappe und passte auf, ob Cops kamen.
In der hintersten Ecke des Parkplatzes unter einer großen Kiefer stoppte Max, und ich sprang vom Lenkrad. Mir war der Hintern eingeschlafen. Aber das war ich gewohnt. Es gab selten mehr als ein Fahrrad bei uns, wenn überhaupt. Vor ein paar Jahren hatte Max mal ein tolles BMX-Rad mit Stangen für Tricks an der Hinterachse. Wir fuhren durch die ganze Stadt mit dem Ding. Aber Mom hat es nach ein paar Monaten verkauft.
Typisch Mom.
Wie gewonnen, so zerronnen war das Motto im Daniels-Haus.
Aber ich wurde langsam zu groß, um mich wie ein Mädchen auf der Stange eines der Fahrräder herumfahren zu lassen, die Max klaute. Schweiß lief ihm übers Gesicht , und er hatte sich vornüber gebeugt, um wieder zu Atem zu kommen. Seine Rippen zeichneten sich unter seinem dünnen T-Shirt deutlich ab, wie die Stufen einer Leiter.
Max war schon immer schlaksig gewesen. Aber inzwischen war er furchterregend hager.
Es kam mir fast so vor, als würde Max schrumpfen. Sich langsam auflösen.
«Bist du okay?», fragte ich ihn.
«Klar. Du bist nur fett geworden, Mann.» «Und du bist ein Weichei geworden», schos
s ich zurück, froh, dass wir uns wie früher aufzogen. Aber Max ging nicht darauf ein. Er lächelte nicht, er schubste mich nicht. Er … tat gar nichts.
Er betrachtete einfach nur mit zusammengekniffenen Augen die Autos auf dem Parkplatz.
«Nimm das Rad und fahr nach Hause», sagte Max.
«Was? Aber so war das nicht geplant.»
«Pläne ändern sich.»
«Nein! Was … Was wenn … Was wenn du keins der Autos aufkriegst? Willst du dann nach Hause laufen? Das ist ewig weit.»
«Ich nehm den Bus.»
«Das ist doch scheiße.»
«So ist das halt.»
«Na ja, aber … das ist einfach dumm.»
Max ignorierte mich. Das war auch so eine seltsame Sache, die erst seit dem Jugendknast so war. Früher hatte Max mich nie ignoriert. Mom und Pops ständig. Aber nie Max. Er sorgte dafür, dass ich meine Hausaufgaben machte und nicht in Schwierigkeiten geriet. Dass mich niemand mobbte. Wenn Mom und Pops loslegten, nahm Max mich mit zu den Partys seiner Freunde. Oder er ging mit mir campen oder zu der Brücke. Wenn er eine Freundin hatte, nahm er mich mit zu ihr und ließ mich auf der Couch schlafen.
In den fünfzehn Monaten, in den Max einsaß, kletterte ich nachts aufs Dach des schäbigen Hauses, in dem wir unsere Wohnung hatten. Und dann saß ich da inmitten der Möwenscheiße und fragte mich, wo mein Bruder war. Ob es ihm gut ging. Wenn es nicht so wäre, wüsste ich das bestimmt. Ich könnte es spüren. Diesen Blödsinn glaubte ich damals wirklich. Also hatte ich in den Himmel gestarrt und mit dem Loch in meinem Herzen versucht, meinen Bruder zu erspüren, als hätte ich da drin eine Wünschelrute.
Ich hatte ihn nicht gespürt. Nicht ein einziges Mal.
Max war seit drei Monaten raus aus dem Knast, ließ sich aber nicht allzu oft zuhause blicken. Mom war völlig durchgedreht und hatte ihm eine große Empfangsparty geschmissen. Der ganze Club von Dad war aufgetaucht – und das war eine ziemlich große Sache, nach dem ganzen Scheiß, den Mom in den letzten Monaten abgezogen hatte. Aber Max hatte der Party den Rücken gekehrt. Er kehrte gerade jedem den Rücken.
Ich wusste nicht, wo Max schlief, und nachts kletterte ich immer noch aufs Dach, als ob ich meinen Bruder von dort oben sehen könnte. Ihn in all der Dunkelheit finden könnte.
Max holte den Schraubenzieher und das lange, dünne Blechstück aus der Tasche, das er benutzte, um in die Autos zu kommen. Ich hatte zugehört, als Max mit diesem Kerl namens Rabbit sprach – na ja, ich war draußen vor der Tür gewesen und hatte gelauscht –, und der hatte erklärt, dass es bei den neueren Wagen, den teuren SUVs, einen besseren Weg gab, das Auto anzulassen, als einen Schraubenziehen ins Zündschloss zu rammen.
«Max”, sagte ich. «Rabbit meinte …»
«Verschwinde. Na los.»
Ich folgte ihm, als er über den Parkplatz marschierte, jagte ihn regelrecht. «Max, hör zu. Du bist ein beschissener Autodieb. Du wurdest schon mal erwischt.»
«Du weißt nicht, wovon du redest. Du bist nur ein Kind. Also nimm das Fahrrad und verschwinde.»
«Rabbit hat gesagt, dass es eine einfachere Methode gibt. Du brauchst …»
Max zeigte mir über seine Schulter den Stinkefinger und begann zu laufen. Ich kam nicht mehr hinterher.
Ich sah zu, wie sich mein Bruder in seiner dunklen Jacke zwischen den Autos hindurchschlängelte, wie er immer weiter wegging, immer kleiner wurde.
Und mich allein ließ. Ganz allein.
Scheiß drauf!
Ich probierte bei einigen der älteren Autos um mich herum, ob die Türen verschlossen waren, und vermied alle, die aussahen, als könnten sie eine Alarmanlage haben. Rabbit hatte auch erklärt, wie man die ausschaltet, aber ich konnte mich nicht erinnern.
Rabbit war echt ein durchgeknallter Kerl. Er war grad erst in den Skulls Motorradclub aufgenommen worden, und er spielte eine wichtige Rolle in der Autowerkstatt, die der Club betrieb. Dad konnte den Typ nicht leiden, er zog ständig über ihn her. Nannte ihn einen Hinterwäldlerfreak, der ihnen allen noch Probleme machen würde.
Deshalb verstand ich echt nicht, warum Max Autos für diesen Hinterwäldlerfreak klaute. Aber inzwischen war alles, was Max tat, für mich ein Rätsel.
Der kalte Wind ließ meine Augen brennen, und ich zog mir die Ärmel meines Sweatshirts über die Hände. Auf keinen Fall würde ich meinen Bruder hier draußen allein lassen, also zog ich weiter an Wagentüren.
Als die Tür eines beigen Kombis unter meinen Fingern nachgab, war ich mehr überrascht als irgendetwas anderes. Ich sah mich schnell um, ließ meinen Blick über die Dächer der Autos schweifen. Ich konnte weder Max noch sonst irgendwen entdecken. Das Wagenmeer war komplett verlassen.
Ein wildes, ängstliches Lachen drang aus meiner Kehle. Gott. Mache ich das wirklich?
Ich ließ mich hinters Lenkrad gleiten und nahm das Schweizer Taschenmesser aus der Tasche, das Mom mir letzte Weihnachten geschenkt hatte. Ich hatte es immer bei mir, damit es nicht verschwand, wenn sie mal wieder Geld brauchte.
Ich klappte den Schraubenzieher des Messers auf und begann die Schrauben an der Lenksäule herauszudrehen. Als ich die Plastikabdeckung gelöst hatte, vielen mir drei Bündel aus Drähten entgegen. Ich erinnerte mich an Rabbits Worte und griff nach dem mit den roten und gelben Drähten. Ich schnitt ein Stück der Isolierung ab und knotete sie zusammen, den Draht für die Zündung ließ ich frei. Zumindest hoffte ich, dass ich den richtigen im Blick hatte.
Vermutlich war ich gerade auf bestem Wege, das Auto in die Luft zu sprengen. Oder mir selbst einen Stromschlag zu verpassen.
Ich atmete tief durch, schickte ein geflüstertes Gebet an Moms Gott und machte nun auch die Isolierung von den stromführenden Drähten ab. Und dann, vorsichtig darauf bedacht, nur die isolierten Teile zu berühren, hielt ich die Enden aneinander.
Ein Pulsieren zog sich über meine Arme nach oben, meine Ohren brannten und meine Finger wurden taub – aber der Motor erwachte brüllend zum Leben, und ich stieß einen Jubelschrei aus, bevor ich mich zurückhalten konnte.
Es hatte funktioniert. Scheiße, es hatte tatsächlich funktioniert.
Wer ist jetzt das Kind, Max?
Ich benutzte eine Hand, um auf das Gaspedal zu drücken und den Motor aufheulen zu lassen.
«Was zum Teufel macht ihr Jungs da?», schrie ein Mann.
Ich schoss unter der Lenksäule hervor und sah Max auf mich zu rennen. Ein Mann in einem Anzug war hinter ihm, noch vier Autoreihen entfernt.
«Hey!», brüllte der Anzugträger.
«Hermano!», schrie Max. Er hob die Hand, damit ich ihn sehen konnte, während er geduckt um die Autos lief, um mich zu erreichen.
Ich setzte mich richtig auf den Fahrersitz und Max riss die Tür die Beifahrerseite auf. Noch bevor er sie wieder zugeworfen hatte, hatte ich den Gang eingelegt und das Gaspedal bis zum Boden durchgedrückt. Kies spritzte in alle Richtungen davon, als wir aus der Parklücke schossen und Richtung Ausgang rasten.
«Scheiße, was sollte das, Dylan?» Max atmete keuchend, während er durch das Rückfenster beobachtete, wie der Mann im Anzug langsamer wurde und dann ganz anhielt.
Ich stieß ein Heulen aus. Das Geräusch bestand zur Hälfte aus Lachen, zur Hälfte aus Adrenalin und zur Gänze aus Siegesrausch.
Ich hatte ein Auto geklaut. Ich hatte ein beschissenes Auto geklaut.
Das war … Fuck. Ich hatte ein Auto geklaut.
«Ich hab dir gesagt, du sollst nach Hause gehen!», brüllte Max mich an.
Ich war zu konzentriert, um mich mit ihm zu streiten. Ich versuchte, mich zu erinnern, wie ich von diesen unbefestigten Straßen weder auf die größeren und dann zu Rabbits Werkstatt kam.
«Wie … wie zum Teufel hast du den Wagen anbekommen?» wollte Max mit einem Blick auf die Drahtbündel wissen, die mir gegen die Knie schwangen.
«Ich habe auf Rabbit gehört.»
«Tu das nicht. Hör nie wieder auf diesen Kerl. Bei gar nichts, verstanden?”
«Na ja, bei dieser Sache hatte er recht.»
Ich bog rechts ab, und der unebene Kies unter den Rädern wich einer glatt asphaltierten Straße. Das Auto zog mich immer wieder in die eine oder andere Richtung, es tanzte beinahe. Aber ich hatte es unter Kontrolle. Ich gab noch mehr Gas. Ich konnte den Boden unter den Reifen spüren, durch meine Füße, meine Beine, bis in meinen Magen. Mein Schwanz wurde davon fast hart.
«Du hast über 150 kmh drauf, Dylan.»
Echt? Es fühlte sich an, als würde ich in Schneckengeschwindigkeit fahren. Es gab keinerlei Verkehr auf diesen abgelegenen Straßen. Nicht mal Stoppschilder. Es gab nur uns und dieses Auto, ohne jedes Hindernis.
Max‘ Hand landete schwer auf meiner Schulter. «Gut gemacht», sagte er, und ich sog das Lob meines Bruders auf wie ein trockener Schwann, ließ es durch meine Haut bis in mein hungriges Herz eindringen. «Aber du machst das nicht noch mal», fügte er hinzu.
Oh doch.