Bonuskapitel «Ozias»
Neue Rekruten zu trainieren war genauso, wie auf Katzenbabys aufzupassen. Und so sehr ich die flauschigen kleinen Fellknäuel auch liebte, man konnte einfach nicht vorhersagen, wann sie sich erschreckten und die Krallen ausfuhren. Dasselbe traf auch auf neu erweckte Assassinen und ihre Schatten zu. In einem Moment hatten sie noch die Kontrolle, und im nächsten …
„Passt auf!“ Ich zog den Kopf ein, als eine missgestaltete Schattenklinge durch die Luft zischte. Calem, der sich gerade auf ein paar anspruchsvollere Übungen mit Emelia und Iov konzentrierte, hörte meine Warnung nicht. Die Klinge ritzte seine Wange auf, bevor sie sich in Luft auflöste. Blut trat aus der dünnen roten Linie, die seine Haut zerteilte. Mit einem mörderischen Blick wirbelte er herum, und die verantwortliche Rekrutin duckte sich hinter meinem Rücken.
„Mach dir wegen ihm keine Sorgen“, sagte ich, und trat einen kleinen Schritt zur Seite, um den Neuling vor Calems unnötig scharfem Blick zu verbergen. „Das heilt in ein paar Minuten. Außerdem ist er gar nicht so böse, wie er grad guckt.“
Calem machte eine rüde Geste, bevor er sich wieder zu den Zwillingen umdrehte. Emelia und Iov traten prompt einen Schritt zurück. Offensichtlich waren sie sich bewusst, dass sie jetzt Calems Frust ausbaden mussten. Tiefschwarze Klingen formten sich in ihren Händen, und sie nahmen eine Verteidigungsposition ein, Schulter an Schulter.
„Es tut mir leid“, flüsterte die junge Frau, und ich wandte mich ihr wieder zu.
Sie hatte glatte helle Haut und runde bernsteinfarbene Augen. Ihr dunkles Haar fiel ihr in leichten Wellen bis auf die Schultern. Wie die anderen Rekruten trug sie eine lockere, ärmellose Tunika, enganliegende Hosen und kniehohe Stiefel.
„Nur keine Panik, das kommt vor.“ Ich blickte über ihren Kopf zu den Gruppen, die ich eingeteilt hatte. Wir erweckten nicht oft neue Mitglieder für Cruor, aber wir trainierten alle regelmäßig. Ich ließ einige der erfahrenen Mitglieder zusammen mit unseren neuen Brüdern und Schwestern arbeiten. Sie gingen einfache Übungen durch, riefen die Schatten, verdichteten sie zu Klingen und schleuderten sie auf die Ziele, Vogelscheuchen an der Waldgrenze.
Aber Zara … Ich lächelte auf sie hinab. Sie tat sich schwer. “Versuchen wir es noch mal. Aber diesmal halt die Klinge fest, nachdem du sie geformt hast.“
Sie nickte, und ihre Brauen zogen sich konzentriert zusammen, als sie den Blick auf ihre offene Handfläche richtete. An ihrem Unterarm spannten sich die Muskeln und begannen zu zittern. Selbst ihre Finger zuckten. Nach kurzer Zeit bildete sich ein Tropfen Schweiß an ihrer rechten Schläfe und drohte, an ihrer Wange hinabzulaufen.
„Du gibst dir zu viel Mühe.“ Ich legte meine Finger über ihre, wodurch sie noch winziger erschienen.
„Aber du hast doch gesagt, dass ich mich konzentrieren soll.“ Sie riss ihre Hand verärgert weg und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ich konnte nicht verhindern, dass sich ein Grinsen auf meinem Gesicht ausbreitete. Ich war bei meinen ersten Trainingsstunden mit Kost genauso frustriert gewesen, zumal er noch nie der geduldige Typ gewesen und das Training entsprechend katastrophal gelaufen war. Sobald ich anfing, meine Kräfte zu beherrschen, war ich zum damaligen Gildenmeister Talmage gegangen, und hatte darum gebeten, an Kosts Stelle die Ausbildung der neuen Rekruten zu übernehmen. Keiner der beiden hatte widersprochen.
“Du hast Recht”, sagte ich und schob die Erinnerung an Kost beiseite, wie er genervt seine nutzlosen Anweisungen wieder und wieder herunterbetete, als wäre es das einfachste der Welt, die Schatten zu beherrschen. „Du musst dich konzentrieren, damit du nicht aus Versehen jemanden enthauptest, aber du musst dich auch entspannen.“
“Als wäre das nicht total widersprüchlich”, murmelte sie.
Ich legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter und drehte sie zu den anderen Assassinen um, die ihre Übungen machten. „Sag mir, was du siehst.”
Sie kniff die Augen zusammen, dann zuckte sie mit den Schultern. „Einen Haufen Leute, die das hier viel besser können als ich.“
Ein tiefes Lachen stieg aus meiner Brust. „Erzähl mir nicht, was du denkst. Sag mir, was du siehst.“
Ich wartete und ließ meinen Blick über die Lichtung streifen, nahm alles in mich auf, wie sie es tun sollte. Der Rasen war frisch gemäht, und der Geruch von taufrischem Gras hing schwer in der Luft. Die Morgensonne gleißte, und doch konnte ich noch immer die Schatten spüren. Sie lauerten in der Dunkelheit des Kitskaforstes und schlichen durch das Gras, bereit, dem Ruf eines jeden Assassinen zu folgen. Und eine Form anzunehmen, die nur der Tod erschaffen konnte.
Die nur wir erschaffen konnten.
Sie strich sich über den Hals und wippte auf und ab. „Ich sehe Schatten. Mehr als vor meinem Tod.“
Ich nickte. „Sie sind immer da. Deshalb musst du dich auch nicht so stark darauf konzentrieren, sie zu rufen. Sie warten bereits.“ Langsam drehte ich sie wieder zu mir um und nahm ihre Hand. Körperkontakt half dabei, die Rekruten zu beruhigen. In der Anfangszeit waren sie meist noch zu sehr von ihrem Tod erschüttert, um unterscheiden zu können, was real war und was nicht. Dies erhöhte die Schwierigkeit, etwas zu kontrollieren, das sie nicht berühren konnten, und es in etwas zu verwandeln, das plötzlich greifbar wurde. „Die Schatten werden dir immer folgen. Und nun versuch es nochmal.“
Sie holte tief Luft und ließ sie dann langsam wieder entweichen. Ihre Hand entspannte sich merklich. Sie ließ die Augen geöffnet, aber ihr Blick wurde leer, als würde sie etwas sehen, das niemand sonst wahrnehmen konnte.
Nach und nach sammelte sich eine Masse aus wirbelnden Schemen auf ihrer Handfläche. „Gut.“ Meine Stimme war leise und gleichmäßig. „Und nun stell dir vor, welche Form du erschaffen möchtest. Ein Messer ist am einfachsten.“
Sie nickte kaum wahrnehmbar und senkte den Blick auf ihre Hand. Die Schatten antworteten und verdichteten sich zu einem zittrigen Messer. An den Rändern schimmerten die Konturen, verschwammen zu Rauch und erschienen wieder, während Zoe versuchte, ihr Bild zu schärfen.
„Halt die Form einfach.“ Mit meiner freien Hand rief ich eine Schattenklinge und ließ sie neben ihrer Kreation schweben. „Kopiere das hier. Konzentriere dich darauf, wie lang Messer ist. Stell dir vor, wie schwer es ist. Wie es sich in deiner Hand anfühlen würde.“
Schweiß bildete sich über ihrer Augenbraue, aber sie gab nicht auf. Ihre Klinge wurde immer realistischer, gewann mit jeder Sekunde an Festigkeit. Schließlich verbanden sich auch die letzten losen Schattenfäden, und ein Messer, dunkler als die Nacht, lag auf ihrer Handfläche. Sie blinzelte und keuchte dann überrascht auf, sodass sich die Klinge beinahe auflöste. Gerade noch rechtzeitig gewann sie die Kontrolle zurück, bevor sie durch ihre Finger schlüpfen konnte.
„Ich hab’s geschafft.“
Ein breites Lächeln trat auf meine Lippen. „Gut gemacht!“
„Also, wohin soll ich es jetzt werfen?“ Sie schloss die Finger fester um den Griff und deutete eine Wurfbewegung an, während sie sich auf der Suche nach dem nächsten passenden Ziel umsah.
Ich hob die Hände. „Nein, wirf es nicht. Noch nicht.“
Sie schürzte die Lippen, unfähig ihre Enttäuschung zu verbergen. Ich wusste, dass sie sich den anderen Rekruten anschließen wollte. Ich war auch nie mit dem Gefühl zurechtgekommen, hinterherzuhinken und ausgeschlossen zu werden. Ich wusste nur zu gut, wie sich das anfühlte.
Ohne dass ich es verhindern konnte, tauchte in mir eine Erinnerung an Jaxson auf. Es hatte Jahre gedauert, bis ich in meinen Körper hineingewachsen war. Ich war ein dünner, zu groß geratener Junge gewesen, der seine Gliedmaßen nicht unter Kontrolle hatte. Und noch ungeschickter war ich darin, Freunde zu finden. Aber aus irgendeinem Grund hatte Jaxson mich ausgesucht. Plötzlich wurde aus dem Jungen, der den anderen Dorfkindern beim Spielen zusah, der Junge, der sich mit Jaxson eigene Spiele überlegte, bei denen am Ende jeder mitmachen wollte. Als Jugendliche begannen wir, unsere Kreativität für kleinkriminelle Aktivitäten zu nutzen, und genau wie früher beschützte Jaxson mich, wenn ich es am nötigsten hatte. Und bezahlte mit seinem Leben dafür.
Damals schwor ich mir, dass ich von jetzt an die Menschen in meinem Leben beschützen würde. Nicht andersherum. Nie wieder.
„Ozias?“, fragte Zara, und ihr besorgter Ton verscheuchte die Erinnerung. „Es tut mir leid. Ich muss es nicht unbedingt werfen.“
Sie biss auf ihre Unterlippe, und Schuldgefühle rumorten in meinem Magen. Sie trug keine Verantwortung für meine Vergangenheit, und ich hätte verhindern sollen, dass meine Stimmung ihr Training verdarb. „Wofür entschuldigst du dich? Du hast nichts falsch gemacht.“ Ich zog meine Hand zurück und legte sie auf ihre Schulter. „Ich will nur nicht, dass Calem ausflippt, falls eins der Messer wieder seinen eigenen Willen entwickelt.“
Sie lächelte und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. „Ist er immer so?”
“Calem?” Ich warf einen Blick über die Schulter zurück. Er hatte seine Tunika ausgezogen und kämpfte inzwischen mit nacktem Oberkörper im Nahkampf gegen Emilia. Sein blondes Haar wirbelte herum, als er einer ihrer Attacken auswich. Im nächsten Moment stand er hinter ihr und hielt ihr mit tödlicher Präzision eine Klinge an die Kehle. Sie erstarrte, und er stieß ein triumphierendes Lachen aus.
Mit einem Augenrollen drehte ich mich wieder zu Zara um. „Er ist immer so. Halb nackt und so.”
“Und du trainierst nicht zufällig auch mal oben ohne?“ Ihr Lächeln war herausfordernd, ihre Augen leuchteten, und plötzlich vergaß ich, wie man schluckte. Worte blieben in meiner Kehle stecken, und ich wandte den Blick ab. Jaxson hatte es nie geschafft, mich dazu zu bringen, in Gegenwart von Frauen lockerer zu werden. Obwohl er es versucht hatte, immer wieder, egal wie zwecklos es war.
Mit einer steifen Bewegung ließ ich meine Hand von ihrer Schulter fallen, räusperte mich und trat einen vorsichtigen Schritt zurück. „Ähm, nein, nicht wirklich.“
„Warum nicht?“
Mein Puls schnellte in die Höhe. Es war unangenehm. Ich hasste das Gefühl, wie es meine Hände kribbeln ließ. „Ich weiß nicht.“
Sie kam einen Schritt näher. „Ich wette, du siehst ohne Hemd besser als Calem aus.“
Und weg war sie, meine Fähigkeit, ganze Sätze zu formulieren. Als hätte ein Zauberer ein Feuer in meinem Kopf entfacht, um sämtliche Worte zu Buchstabenasche zu verbrennen, aus der sich nichts mehr formen ließ, was auch nur die geringste Ähnlichkeit mit richtigen Sätzen hatte.
Natürlich führte das dazu, dass ich ein seltsames Grunzen von mir gab, das vermutlich „Danke“ heißen sollte.
Zara lachte, und das machte alles nur noch schlimmer. „Komm schon. Beweis, dass ich recht habe.“
Mein Blick wandte sich gen Himmel, während ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie man sprach. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie man flirtete. Und meine Tunika auszuziehen, würde die Situation eindeutig nicht verbessern. Selbst im Schutz meiner Kleidung war ich kaum noch funktionsfähig. Nein, es wäre besser, wenn Zara einfach mit ihrem Training weitermachte. Ich schluckte schwer, löste so die in meinem Hals feststeckenden Wörter und fand endlich meine Stimme wieder.
„Warum versuchst du nicht, noch eine Schattenklinge zu formen?“
Sie hielt inne, dann gab sie ein unzufriedenes Seufzen von sich. „Klar.“
Es war mir lieber, sie jetzt zu enttäuschen als später, wenn es die Lage nur noch unangenehmer machte. Nach einem kurzen Moment schmolz die Klinge in ihrer Hand zu einer Rauchpfütze zusammen. Dann rief sie die Schatten zurück und begann wieder damit, sie zusammenzuweben. Mit der Zeit verging ihre Frustration, und dadurch nahm auch meine Nervosität ab.
Ich wusste einfach nicht, was ich in solchen Situationen sagen oder wie ich mich verhalten sollte. Ich würde nie wie Calem sein, der völlig sorglos eine Affäre nach der anderen hatte. Auch Kost und Noc waren anders als ich. Mir schien es, dass sie jeden haben konnten, den sie wollten, sich aber entschieden, nichts zu unternehmen, bis die richtige Zeit dafür kam. Und ich? Mein Blick schweifte zu den Rekruten, die ihre Übungen beendet hatten, sich auf dem Rasen sammelten und sich in meine Richtung bewegten.
Ich war besser darin, auf die Katzenbabys aufzupassen. Außerdem zählten die Familie, die ich gefunden hatte, und die Freundschaften, die ich geschlossen hatte, für mich am meisten. Ich dehnte meinen Nacken, um auch noch den letzten Rest Anspannung zu vertreiben, und schlüpfte wieder in meine Rolle als Lehrer und Beschützer.
Diese Grenze würde immer da sein, und genauso gefiel es mir.